Zugegeben, vielleicht waren wir nicht die primäre Zielgruppe: zwei junge Frauen, unter 30, angehende Politikwissenschaftlerin die eine, angehende Diplom-Pädagogin die andere. Derzeit beheimatet in akademischem Umfeld geistes- und sozialwissenschaftlicher Universität, sich selbst verordnend in der Postmoderne. Derzeit sesshaft in der „Stadt der Wissenschaft 2009“. Wir sind jung und flexibel und freuen uns auf die Herausforderungen des nationalen und internationalen Arbeitsmarkts; wir sind Deutschland; wir sind Wissenschaft. Dachten wir. Bis zu diesem Tag.
Bei strahlendem Sonnenschein an einem Tag im Mai 2009, spontaner Besuch des Science Express, der am Hauptbahnhof in Oldenburg (Oldenburg) auf Gleis 8 drei Tage Station machte. Die Idee eines Zuges, der, wie wir erfahren durften, libellenförmig durch die Republik fährt, hat Charme. Mal was neues, Innovation als Stichwort. Auf dem Bahnsteig angekommen reihen wir uns ein in eine Schlange und warten etwa 30 Minuten geordnet in Reih und Glied. Wir wissen, wie das geht, sind „wir“ doch „hier“ sozialisiert. Der weiß lackierte Zug mit 13 Waggons, zwölf Themen und einem „Familien-Experimentierwagen“ ist nicht unästhetisch. „Wie in einem begehbaren Buch werden die Themen des Zuges erzählt,“ heißt es auf der Internetpräsenz. Ein begehbares Buch, soso. Eines, in dem jedoch keine Seite umgeblättert oder übersprungen werden kann, sondern eines, in dem systematisch von vorne bis hinten gelesen werden muss. Früher aussteigen ausgeschlossen.
Zugangsvorrausetzungen:
Schon draußen wartend ahnen wir, dass die „Wissenschaft“ im Zug vielleicht nicht unserem Geschmack, also dem Geschmack der stets kritischen Dekonstruktivistinnen und Dekonstruktivisten entsprechen könnte. In der Konzept-Vorstellung auf den Internetseiten der „Expedition Zukunft“ steht geschrieben: „Der Ausstellungszug ist Teil des "Wissenschaftsjahres 2009 – Forschungsexpedition Deutschland" und besonders dazu geeignet, möglichst viele Bürger und Jugendliche flächendeckend und in kurzer Zeit zu erreichen“. Als Bürgerinnen fühlen wir uns von diesem Text nicht angesprochen. Aber wir wissen, dass diese Formulierung keine reale Zugangsrestriktion für den Science Express impliziert, wenn auch Formulierungen wie diese „uns Frauen“ den Zugang zu den Zirkeln der Macht real verweigert. Bundeskanzlerin hin oder her.
Wir wappnen uns angesichts der zu erwartenden hegemonialen Diskurse, geloben aber auch einen Versuch der Offenheit. Wir wollen dem Zug eine Chance geben. Und dann sind wir an der Reihe und dürfen den „Science Express“ betreten. Aufgeregt sind wir, wie kleine Kinder, äh, kleine Jungen. Mädchen sind nicht so viele da.
Keine Berufsperspektiven für unsere Töchter?
Gleich zu Beginn fällt uns das generische Maskulinum ins Auge und es wird uns die über 1,5- stündige Tour durch den Zug begleiten. Kritikerinnen werden uns entgegnen, dass „der Lesbarkeit halber“ auf den Schautafeln und Monitoren der Ausstellung lediglich die männliche Form verwendet wurde, aber „natürlich beide Geschlechter“ gemeint sind. Wir lassen und nicht ein auf diese Diskussion, sondern äußern unser Unbehagen, wenn wir uns vorstellen sollen, was ein Mädchen, bisher noch träumend von einer Karriere als Neuroingenieurin, lesen muss: „da wird der Forscher zum Ingenieur“. Was soll sie denn werden? Ah, im nächsten Waggon die Antwort, in Form eines nicht kommentierten Bildes: Krankenschwester, das geht. Dies ist besonders ärgerlich, weil es das erklärte Ziel der „Forschungsexpedition Deutschland“ ist, speziell junge Menschen anzusprechen, um ihnen „Forschung und Entwicklung als beruflichen Weg“ schmackhaft zu machen. Schließlich sei Wissenschaft und Forschung in Deutschland ja ein eigener Wirtschaftszweig und es herrsche ein internationaler Wettbewerb. Aha, es geht also um die Präsentation und die Sicherung der Wissenschaftsstandortes Deutschland. Und der braucht Nachwuchs. Allerdings männlichen, schade. Jetzt zusätzlich sensibilisiert achten wir in den folgenden Themenwaggons auf die Verhältnisse Frauen vs. Männer. Der homo neanderthalensis ist maskulin, das kennen wir noch aus unserer Schulsozialisation in den 1980ern. Aber sind wir nicht im Science Express 2009? Auf die stringente Benutzung des generischen Maskulinums wurde bereits hingewiesen, nun also auch noch die beinahe konsequente Benutzung von Männern auf den Bildern. Gerne würden wir unseren ungeborenen Töchtern den Weg bereiten für eine Karriere in Wissenschaft und Forschung- aber die Zukunft verspricht uns noch stärkere Restriktionen, als wir es gegenwärtig selbst erleben. Hauptverantwortlich für den Science Express ist eine Frau. Aber wir gehören eh nicht zu denen, die sich von der Tatsache einer Frau als „Bundeskanzler“ feministischen Fortschritt versprachen. Wir wurden nicht enttäuscht: „Ingeniere werden die neuen Halbgötter in weiß“ heißt es auf einer Schautafel. Anstatt die Halbgötter zu dekonstruieren, scheinen die Macher der Ausstellung erkannt zu haben, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Frauen in das Medizinstudium strömen. An manchen Kliniken stellen sie bereits über die Hälfte der Belegschaft. Ist die Abwertung der Medizin und die Aufwertung der Ingenieurswissenschaft, die einen noch geringen Frauenanteil verbucht, im Science Express ein Zufall? Nein.
Nun gut, der „Science Express“ ist androzentrisch konzipiert, ein Umstand, der angesichts der vergangen und gegenwärtigen Naturwissenschafts-Diskurse wirklich keine große Überraschung ist. Nein, wir finden uns nicht damit ab, gehen aber trotzdem weiter.
Interdisziplinarität war gestern
Als nächstes lernen wir, dass es sich bei „Wissenschaft“ um Naturwissenschaft, also (Micro-)Biologie, Astrophysik, Neurologie und um Ingenieurwissenschaften handelt. In den Händen dieser Wissenschaften liegt also die Zukunft. Und diese Wissenschaft liegt in Männerhänden. Es dreht sich alles um Biowissenschaften, Nanotechnologien, Kognitionsforschung, Medizin, Ernährungswissenschaften, Informations- und Neurotechnologien, Weltbevölkerungswachstum, Rohstoffverbrauch, Mobilität, digitale Vernetzung uns so weiter und so weiter.
Themengebiete wie Ethik, Philosophie, Sozialstruktur, Bildung, Erziehung, Chancengleichheit, Diversität, Pluralität, Soziales…... fehlten vollkommen. Wird unsere Zukunft also allein vom naturwissenschaftlichen Fortschritt bestimmt werden? „Zugpartner“ des Projektes sind die Bayer AG, die Siemens AG und die Volkswagen AG. Dann gibt es noch Wagenpartner und Medienpartner, und es leuchtet ein, dass das (so hört man munkeln) 15 Millionen teure Projekt auf zahlungskräftige Unterstützung angewiesen war. Aber können Unternehmen wie die gerade genannten über ihren eigenen Tellerrand hinaussehen? Können sie sich selbst kritisch prüfen? Sie sind Unternehmen, die primär das Interesse von Profit und Profilierung haben. Es erstaunt, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung so sehr eine Plattform, ja einen ganzen Zug zur Verfügung steht für diesen Streifzug der Vermarktung. Aber ist das Fortschritt? Die Chance zum interdisziplinären Dialog zwischen Sozial/ Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften wurde nicht genutzt. Das lässt sich eher als Rückschritt, denn als Fortschritt bewerten. Gerade bei Fragen der Globalisierung scheint ein interdisziplinärer Ansatz, z. B. mit den Sozialwissenschaften, eigentlich unverzichtbar. Stattdessen präsentiert sich uns eine komplette Ausblendung der sozialen Fragen - also: Wissenschaft für wen? Wer wird ausgegrenzt? Wessen Interessen werden nicht vertreten? Bietet eine solche globale, vernetzte Welt auch Chancen in Sachen sozialer Gerechtigkeit? Wie ist ein „shared social life“ ohne Ausgrenzung möglich? - zugunsten einer Fokussierung auf Fragen des technisch machbaren. Es wird also nur „Wie?“ gefragt und nicht „Wer?“ und nicht „Wohin?“.
Sollte gar das Desiderat sozialwissenschaftlicher und pädagogischer Gesichtspunkte politisches Kalkül sein? Geht es versteckt um die Markierung der zu verteilenden Forschungsgelder in den kommenden Jahrzehnten? Ist es ein Zufall, dass die nicht vertretenden Sozial-, Politik- und Erziehungswissenschaften einen weitaus höheren Frauen-Anteil haben, als die hier glorifizierten harten, männlich-dominierten Naturwissenschaften?
Fragwürdige Zielgruppenorientierung
Nun aber zum erwarteten hegemonialen Diskurs: Wer macht (Natur-)Wissenschaft und für wen? Das „Wer“ hätten wir ja schon geklärt: Männer, vermutlich Weiß und deutsch. Dass uns auf zwei Tafeln Schwarze Männer entgegenblicken, interpretieren wir nicht als gewollt, sondern mag im Umfeld des Bildmaterials verortet liegen, dass dem Gestaltungsteam zur Verfügung stand- bei beiden Bildern ist ein US-amerikanischer Hintergrund identifizierbar. Und für wen wird Wissenschaft gestaltet? Die Marktforschung, die Atomenergie-Industrie, die Waffenindustrie und für „UNS“. Wer ist dieses „uns“, und viel wichtiger: Wer gehört nicht zu uns? In Wagen 5 mit dem Titel „Vernetzt + Global“, z.B. werden „gigantische, vernetzte Gemeinschaften“ fantasiert, die „über Kontinente hinweg zusammen forschen und arbeiten“. Die Frage wer als Teil dieser globalen Wissensgemeinschaften die Zukunft mitbestimmen darf, wird nicht direkt beantwortet. Aber das es nicht nur um fröhliches Miteinander, sonder um Konkurrenz geht, wird schon deutlich: „Wissen wird - neben Boden, Kapital und Arbeit – zum entscheidenden Faktor für Wohlstand, aber auch für die Lösung globaler Probleme“. Aha, es geht also um Teilhabe am Wissenschaftsdiskurs, um Macht? Wissen als Kapital. Wie sich die hegemoniale westliche Männlichkeit am besten behauptet, nämlich durch Ausschluss und Unsichtbarmachung alternativer Diskurse und Minderheiten, wird in diesem Wissen(schaft)szug vorbildlich demonstriert.
Dann, in Waggon 6 (individuell und virtuell) dieser Text: „Die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten industrieller Produktion wandeln sich ständig durch neue Technologien, Materialien und Organisationsformen. Daraus entstehen auch neuartige Anforderungen an die Planung und Realisierung von Fabriken. Die digitale Fabrik der Zukunft verknüpft alle Stationen des Lebenszyklus eines Produkts und ermöglicht so eine flexible Fertigung.“ Wie wir uns das konkret vorzustellen haben, zeigen die Bilder einer menschenleeren Fabrik. Die Fabrikationsprozesse eines Autos laufen hier automatisiert und computisiert. Außerhalb des Zuges kämpfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Opel und VW um ihre Arbeitsplätze. Das ist schon fast blanker Hohn.
Didaktisch-Methodische Fehlplanung
Angesichts der vielen angesprochenen Themen und der damit verbundenen Diskurse stellte sich bei uns rasch eine Reizüberflutung ein. Von der im Prospekt versprochenen „Möglichkeit zum Entdecken und Staunen“ finden wir wenig- es gibt wenig zu greifen und tasten, nichts zu riechen und nichts zu schmecken. Nur die Augen und die Ohren werden angesprochen, und dies in einer Fülle mit Text und Fremdwörtern, die uns schon in der Mitte des Zuges ermüdet, und da liegen noch einmal sechs Wagen vor uns. Wie mag es da erst Kindern und Jugendlichen gehen? Ein Mädchen befühlt eine von diversen Plastikkugeln und fragt: „Was ist das?“ „Das ist nur Dekoration“, antwortet eine Mitarbeiterin des Science Express. So werden Kinder und Jugendliche eher vergrault, als dass sie für Forschung interessiert werden. Wirklich ausprobiert werden kann hier gar nichts.
Wir vergessen die anfangs gelobte Offenheit und Unvoreingenommenheit und fangen an, gezielt nach Diskursen zu den Themen Gender, Race, Klasse und Ethnizität zu suchen. Wir werden in jedem Wagon fündig.
Wir erfahren von Kernkraftwerken der 4. Generation: “Ein von einem Neuronenbeschleuniger gesteuerter Kernreaktor könnte den radioaktiven Abfall von herkömmlichen Kernkraftwerken deutlich verringern. (…) Die Lagerzeit für radioaktive Abfälle würde sich dadurch von Millionen auf einige Hundert Jahre verringern.“
Eine Zukunft ohne Kernkraft scheint also undenkbar. Die Frage, wie und vor allem wo denn die radioaktiven Abfälle gelagert werden sollen, bleibt ebenfalls unbeantwortet, ja mehr noch: der Diskurs genereller Ratlosigkeit von Expertinnen und Experten ob einer Endlagerung innerhalb den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland wird ausgeblendet und negiert. Überhaupt ist es erstaunlich, wie viele Leer-Stellen die Tafeln im Science Express besetzen. So viele Fragen werden nicht gestellt. So viele Diskurse ausgeblendet.
Rüstungsindustrie- Bewerbung:
Auch der Einsatz von ferromagnetischen Flüssigkeiten wird erklärt: „Ferrofluide sind Flüssigkeiten, die auf magnetische Felder reagieren. (…) Als Lacke verpassen Ferrofluide Flugzeugen eine Tarnkappe. Auch als Röntgenkontrastmittel und zur Tumorbehandlung sind sie geeignet“. Wir sind erst nicht sicher, was mit „Tarnkappe“ gemeint ist. Macht diese Tarnkappe ein Flugzeug vielleicht auf dem Radar unsichtbar? Ein weiterer Besucher stimmt unserer Theorie zu. Uns fällt nur ein Szenario ein, bei dem der Einsatz einer solchen Tarnkappe nützlich wäre: Krieg. In Zeiten, in denen es dem Verteidigungsminister immer noch schwer fällt, von „gefallenen“ deutschen Soldaten (noch sind es keine Soldatinnen) in Afghanistan und im Irak zu sprechen, verwundert das versteckte Um-Auftrag-Werben der Siemenschen- Rüstungsindustrie, dass sich in den „Wissenschafts- Zug“ eingeschlichen hat, zutiefst. Jetzt macht es uns aber nicht mehr ausschließlich betroffen, jetzt werden wir richtig wütend! Wenn die Kooperation mit den Partnerinnen und Partnern der „freien“ Wirtschaft derzeit bedeutet, dass diese einen didaktisch-methodisch aufbereiteten Werbefeldzug für die eigene Rüstungsindustrie konzipieren kann, dann ist die Notwendigkeit einer „freien“ Sozial- und Geisteswissenschaft als Gegenüber, als KORRETIV, mehr als notwendig!
Am Ende des Zuges befand sich dann ein Mitmachlabor: auf der gläsernen Tür: für Familien. Wer ist damit gemeint? Wir werfen nur einen kurzen Blick rein, wir haben genug gesehen und wollen zurück in die Gegenwart. Die Zukunft behagt uns nicht.
*dieser Text ist eine Koproduktion von nofreteten und anglophilirium.
Donnerstag, 6. August 2009
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